
Bedrohung heute – und damals?
Wenn man die Nachrichten verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen: Die Welt steht kurz vor dem Untergang. Kriege, Krisen, Katastrophen – alles scheint eskaliert. Doch stellt sich die Frage: Ist das wirklich neu? Oder gab es solche Phasen schon immer?
Meine Antwort ist klar: Schon einmal, vor rund 100 Jahren, hat die Menschheit eine Ordnung erlebt, die zusammenbrach – und bis heute wirkt dieses Erdbeben nach.
1918: Der erste große Schnitt
Am Ende des Ersten Weltkriegs standen die Siegermächte Frankreich, Großbritannien und Italien als bestimmende Kräfte da. Sie wollten nicht nur siegen, sondern ihren Sieg unumkehrbar machen.
Ihre Ziele waren klar:
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Das Osmanische Reich sollte verschwinden oder als schwacher Rumpfstaat überleben.
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Deutschland sollte wirtschaftlich gebrochen, abhängig und dauerhaft klein gehalten werden.
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Rohstoffe und Territorien – besonders im Nahen Osten – sollten ausgebeutet und verteilt werden.
Diese Politik war kurzsichtig. Deutschland rächte sich bereits nach zwei Jahrzehnten mit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Aufteilung des Osmanischen Reiches
Was aber geschah mit den Osmanen? Noch während des Krieges hatten sich die Briten und Franzosen im Sykes-Picot-Abkommen (1916) auf eine geheime Aufteilung der osmanischen Gebiete verständigt. Syrien, Irak, Palästina, Libanon – alles war vorab aufgeteilt.
Für die betroffenen Völker bedeutete das: keine Selbstbestimmung, sondern Chaos und Fremdherrschaft. Dieses Abkommen ist bis heute einer der Gründe für die Instabilität im Nahen Osten.
Die Türkei entstand zwar aus dem Widerstand gegen die Besatzung – doch auch der „Sieg“ des Befreiungskriegs konnte nicht verhindern, dass das Land riesige Gebiete verlor.
Ein „Sieg“ mit Verlust
In den Geschichtsbüchern heißt es, die Türkei habe es geschafft, aus einer Niederlage noch einen Sieg zu machen. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache:
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Vor dem Krieg hatte das Osmanische Reich über 5 Millionen Quadratkilometer beherrscht.
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Heute umfasst die Türkei nur noch etwa 780.000 Quadratkilometer.
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Das bedeutet: ein Verlust von mehr als 4 Millionen Quadratkilometern.
Ölreiche Gebiete gingen an die Briten und Franzosen. Griechenland erhielt Inseln direkt vor dem türkischen Festland. Und die Türkei erhielt dafür keine Gegenleistung.
Welcher Sieger eines Krieges gibt freiwillig solch strategisch wichtige Regionen ab? Für mich ist das bis heute ein Widerspruch.
Marshallplan für Deutschland – Isolation für die Türkei
Nach 1945 änderte der Westen seine Strategie. Man hatte gesehen, wohin es führt, wenn man Verlierer demütigt: Es rächt sich. Mit dem Marshallplan setzte man auf Wiederaufbau und Wohlstand – zumindest für die christlichen Staaten Europas.
Deutschland wurde unterstützt, integriert und neu aufgebaut.
Die Türkei hingegen blieb ein Stiefkind. Geopolitisch wichtig, ja – aber immer in Abhängigkeit.
Die Republik Türkei wurde nie völlig unabhängig. Westliche Einflüsse, Spione und Putsche hielten das Land unter Kontrolle. Anders als Deutschland wurde es nicht gleichberechtigt behandelt, sondern gedemütigt und kleingehalten.
Symbolische Demütigungen
Ein bezeichnendes Beispiel ist die Wahl von Keriman Halis zur Miss Universe 1932. Offiziell stand sie für eine moderne, weltoffene Türkei. Doch hinter den Kulissen soll die Wahl politisch motiviert gewesen sein.
Ein Mitglied der Jury erklärte angeblich: „Mit dieser Wahl feiert das Christentum den Sieg über den Islam.“
Ein symbolischer Triumph – aber eine tiefe Demütigung für ein Land, dessen Bevölkerung zu 99 % muslimisch war.
Die Unterdrückung des Islams
Noch gravierender: In den folgenden Jahrzehnten wurde der Islam in der Türkei systematisch zurückgedrängt. Moscheen verloren an Bedeutung, Gläubige wurden diskriminiert, Kopftücher verboten.
Wie konnte es sein, dass in einem fast rein muslimischen Land die Religion so unterdrückt wurde? Für mich ist klar: Das war kein Zufall, sondern Teil einer Strategie.
Die Menschen, die im Befreiungskrieg ihr Leben ließen, waren fromme Muslime. Sie hätten sich nie vorstellen können, dass ihre Nachfahren in einer Republik leben würden, in der der Islam zur Zielscheibe wurde.
Erwachen der Türkei
Doch die Geschichte endet nicht dort. In den letzten Jahrzehnten hat die Türkei begonnen, sich zu emanzipieren. Schritt für Schritt löste sie sich aus der Abhängigkeit.
Viele im Westen sehen das mit Misstrauen. Sie fürchten ein „Wiedererstarken“ des Osmanischen Reiches – nicht in territorialem, aber in politischem Sinne.
Ein Mann steht dabei im Zentrum: Recep Tayyip Erdoğan. Für seine Anhänger ist er der Phönix aus der Asche, der die Türkei wieder aufrichtet. Für seine Gegner ist er eine Bedrohung.
100 Jahre sind nichts
Wenn man die Weltgeschichte betrachtet, sind 100 Jahre kaum mehr als ein Wimpernschlag. Doch die Konflikte von damals sind bis heute spürbar.
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Der Nahe Osten ist durch Kriege, Besatzungen und Stellvertreterkonflikte zerrissen.
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Die Türkei trägt die Last der Vergangenheit, beobachtet, wie ihr einstiges Reich im Chaos versinkt.
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Westliche Doppelstandards – von Irak bis Palästina – lassen tiefe Wunden offen.
Man kann nicht erwarten, dass solche Rechnungen einfach vergessen werden.
Doppelte Standards und offene Rechnungen
Die USA zerstörten den Irak auf Basis einer Lüge – und galten trotzdem noch als die „Guten“.
Die Palästinenser leiden seit Jahrzehnten unter Besatzung, Vertreibung und Gewalt – und doch stellt sich der Westen hinter Israel.
Wenn Jesiden vom IS vertrieben werden, ist die Empörung groß. Wenn aber westliche Kriege Millionen Menschenleben kosten, gilt das als „Kollateralschaden“.
Diese Doppelstandards sind es, die den Hass nähren und eine echte Versöhnung verhindern.
Fazit: Die Rechnung steht noch aus
Die Geschichte zeigt: Wer Verlierer nur demütigt, darf keinen Frieden erwarten. Deutschland bekam eine zweite Chance. Die Türkei bekam Misstrauen, Isolation und Kontrolle.
Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wirken diese Ungleichgewichte fort.
Die Türkei sucht ihren eigenen Weg, immer selbstbewusster und unabhängiger. Und das gefällt nicht jedem.
Doch ob man es mag oder nicht: 100 Jahre sind in der Weltgeschichte nichts. Die offenen Rechnungen von damals sind bis heute nicht beglichen – und sie werden die Zukunft noch lange prägen.